Der Börsencrash von 1987 – ein Schock für die damaligen Handelssysteme | NZZ (2024)

Am 19. Oktober jährt sich der Crash von 1987 zum zwanzigsten Mal. Bisher hat es keinen grösseren Tagesverlust des Dow Jones Industrial Average gegeben. Die Aufarbeitung der damaligen Krise zeigt, wie technische Engpässe und Koordinationsschwierigkeiten die Marktmechanismen teilweise ausser Kraft setzten.

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cae. Jeder aus der Finanzbranche, der damals schon im Geschäft war, kann noch heute genau sagen, wo er am 19. Oktober 1987 gerade war und was er tat. Denn das war der Tag, an dem der Dow Jones Industrial Average 508 Punkte oder 22,6% seines Wertes verlor – der grösste Tagesverlust seiner Geschichte. Der Kurssturz von vor 20 Jahren übertraf auch jenen vom 28. Oktober 1929 (–12,8%), der als Auslöser der grossen Depression in die Geschichte eingegangen ist. Der S&P-500-Index verlor am selben «schwarzen Montag» des Jahres 1987 20,47%.

Chronologie eines Zusammenbruchs

Der Einbruch am 19. Oktober 1987 kam nicht ganz überraschend, das wirtschaftliche Umfeld jener Tage war angespannt und die Marktstimmung in den Tagen unmittelbar vor dem grossen Kurssturz nervös. Die Jahre vor dem Crash hingegen waren ausgesprochen gut gewesen für Aktien: Der S&P-500-Index hatte in den vorangegangenen fünf Jahren bis kurz vor dem Crash um über 200% zugelegt. Entsprechend stolz war die Bewertung der meisten kotierten Aktiengesellschaften gemessen an deren Kurs-Gewinn-Verhältnissen (KGV). Die durchschnittliche Bewertung der 500 im S&P-500-Index enthaltenen Unternehmen war auf über 20 im Vorfeld des Crashs gestiegen, von knapp 10 Anfang der achtziger Jahre. Zum Vergleich: Heute beträgt das KGV für den Index 18.

Der «schwarze Montag» (19.10.1987) steht wie kein zweiter Handelstag für Krise und Panik an den Börsen. Damals erlebte der US-Aktienmarkt seinen bisher grössten Tagesverlust. Bild: Auf dem Börsenparkett der New York Stock Exchange geht es am 19. Oktober 1987 hektisch zu und her. (Bild: Peter Morgan / AP)

Die makroökonomischen Rahmenbedingungen hatten sich in den Monaten vor dem Oktober 1987 verschlechtert: Die Zinsen stiegen weltweit, das US-Aussenhandelsdefizit hatte sich markant vergrössert, und der Dollar war sehr schwach. Inflationsängste liessen Befürchtungen aufkommen, die US-Notenbank Fed werde künftig eine restriktivere Politik befolgen. In der Woche vor dem Crash strich das US-Repräsentantenhaus Steuervergünstigungen bei der Finanzierung von Fusionen, was die Kurse vieler Fusionskandidaten unter Druck setzte (vgl. Grafik). Am letzten Handelstag der Vorwoche zum Crash verfiel eine Vielzahl von Index-Optionen. Der S&P-500-Index schloss jene Woche 9% tiefer – einer der grössten Wochenverluste seit Jahrzehnten.

Akzelerierende Faktoren

Am Montag, dem 19. Oktober, eröffnete die Börse unter starkem Verkaufsdruck. Das Ungleichgewicht zwischen Kauf- und Verkaufsaufträgen war bei vielen Aktien so gross, dass einige Händler in der ersten Stunde den Handel mit gewissen Titeln nicht eröffneten. Um 10 Uhr Lokalzeit wurden 30% des S&P-500-Indexes noch nicht gehandelt. Gegen Mittagszeit drang die Aussage des Vorsitzenden der US-Börsenaufsicht SEC an die Öffentlichkeit, die Behörde werde der New York Stock Exchange (NYSE) eventuell zur Aussetzung des gesamten Handels raten. Der Verkaufsdruck beschleunigte sich danach merklich.

Der markante Kursrutsch am 19. Oktober 1987 brachte die damaligen Handelssysteme an ihre Limiten. Aus heutiger Sicht ist es fast nicht mehr vorstellbar, wie vor zwanzig Jahren die Unzulänglichkeit der technischen Kapazitäten zum Crash beitrug. Damals gab es weder E-Mail noch Internet, und die Datenverarbeitung war langsam. Die Handelssysteme waren schlicht unfähig, das enorme Auftragsvolumen zu bewältigen. Die Drucker, die die telefonisch übermittelten Aufträge ausdruckten, waren überfordert, die Telefonleitungen überlastet. An der NYSE wurden ausgeführte Aufträge erst mit einer Stunde Verspätung bestätigt, was bei den Händlern zu grosser Verwirrung führte: Waren limitierte Aufträge bereits ausgeführt worden, oder mussten neue Limiten gesetzt werden? Im heutigen Zeitalter, in dem die Börsen untereinander um Bruchteile von Sekunden bei der Auftragsausführung in Konkurrenz stehen, ist dies ein schlicht unvorstellbarer Zustand. Die US-Börsen schlossen an drei Tagen jeweils zwei Stunden früher, nur damit die Börsenbetreiber das enorme Handelsvolumen abrechnen konnten. Die Experten, die nach der Krise mit der Aufarbeitung des Crashs beauftragt wurden – beispielsweise die Autoren des berühmten «Brady-Reports» der US-Regierung –, sind sich einig, dass die limitierte Kapazität der technischen Handelssysteme ganz wesentlich zur Akzeleration der Krise beigetragen hat. Der enorme Ausbau der Systemkapazitäten in den vergangenen 20 Jahren ist denn gerade auch auf die Erfahrungen beim 87er Crash zurückzuführen.

Ein anderer Faktor, der gerne als Grund für den beschleunigten Kursrutsch aufgeführt wird, sind gewisse Handelsstrategien wie das Programm-Trading (besonders die Portfolio-Insurance), die damals gross in Mode waren. Diese Strategien waren eigentlich dazu gedacht, Investoren vor grossen Kursverlusten zu schützen, indem bei Erreichen von gewissen Kurslimiten Positionen (Aktien oder Futures) veräussert wurden. Das Problem dieser Strategien war jedoch, dass, wenn sie von zu vielen gleichzeitig verfolgt wurden, sie selbst zum Preiszerfall beitrugen. Der Verlust von 9% in der Woche vor dem Crash hatte sehr viele dieser Limiten überschritten und entsprechende Aktionen ausgelöst, so dass am Montag viele Programm-Trader als Verkäufer auftraten. Einige wissenschaftliche Studien scheinen jedoch zu belegen, dass das Programm-Trading in seiner negativen Rolle im Crash gemeinhin überschätzt wird. Die grösste Auswirkung hatte es an den Future-Märkten, dort machte es immerhin 40% des Handelsvolumens aus.

«Margin-Calls» entziehen Liquidität

Ganz sicher zur Krise beigetragen haben hingegen die «Margin-Calls» und die Art und Weise, wie diese Aufforderungen zu vermehrten Sicherheitsleistungen damals ausgeführt wurden. Obwohl diese Sicherheitsleistungen dazu dienen sollten, die Solvenz der Clearing-Häuser zu garantieren, trugen sie während des Crashs wesentlich dazu bei, dass die Liquidität abnahm, was die Krise verstärkte. Das Clearing-Haus der Chicago Mercantile Exchange (CME), wo die meisten Finanzderivate gehandelt wurden, forderte jeweils zuerst die Nachschuss-Zahlungen zum Ausgleich der Margen-Konten derjenigen Mitglieder ein, die am Vortag Verluste auf ihren Positionen erlitten hatten. Erst wenn diese Zahlungen beglichen waren, wurden die Guthaben auf die Margen-Konten jener überwiesen, die am Vortag Gewinne auf ihren Positionen gemacht hatten. Der Kurssturz am 19. Oktober führte zu zehn Mal mehr «Margin-Calls» als üblich, was die Liquidität der Marktteilnehmer stark reduzierte. Durch die Verzögerung bei den Margen-Zahlungen kamen die Gutschriften ebenfalls verspätet, so dass viele Investoren nicht wussten, was ihre Nettopositionen (Margen-Zahlungen minus Margen-Gutschriften) waren. Um die Mittagszeit des 20. Oktobers waren noch keine Margen-Guthaben gutgeschrieben worden, so dass Gerüchte um die mögliche Insolvenz des Clearing-Hauses der CME die Runde machten, was dazu führte, dass viele Investoren der CME ganz fernblieben.

Um den «Margin-Calls» nachzukommen, mussten viele Mitglieder der CME ihre Kreditlinien bei den Banken stark strapazieren, einige Banküberweisungen erreichten wegen einer Computerpanne die CME mit grosser Verspätung. Viele Privatinvestoren konnten den «Margin-Calls» nicht mehr nachkommen, so dass deren Positionen liquidiert wurden, was den Verkaufsdruck weiter verschärfte. Da an den Spot-Märkten viele Titel nicht gehandelt wurden, waren die Preise der Derivate auf Titel oder Indizes verzerrt, was Arbitrageure auf den Plan rief, die ihrerseits den Verkaufsdruck verstärkten. Während der S&P-500-Index am 19. Oktober gut 20% verlor, verlor der Future auf denselben Index am selben Tag 29%.

Am 20. Oktober trat die US-Notenbank Fed mit einer kurzen Erklärung an die Öffentlichkeit, in der sie ihre Bereitschaft signalisierte, Liquidität bereitzustellen, um das Finanzsystem zu stützen. Die Aussage des Fed war weit mehr als reine verbale Schützenhilfe, denn das Fed sicherte den Banken jene Liquidität zu, die sie für die Gewährung der Kredite für die «Margin-Calls» brauchten – ohne diese Kredite hätten die Clearing-Häuser der Derivatebörsen wohl kaum mehr funktioniert, und der Handel mit Derivaten wäre für längere Zeit ausgesetzt worden. Die Unsicherheit über die Öffnung der Derivatebörsen sorgte auch am 20. Oktober noch für Kursrutsche, doch insgesamt konnte der Tag im Plus beendet werden. Das Fed senkte die Leitzinsen nach der öffentlichen Erklärung um 50 Basispunkte und gab in den folgenden Wochen mittels Offenmarktoperationen wiederholt Liquidität in den Markt.

Lehren aus der Krise

Die Aufarbeitung der Krise von 1987 hat besonders in den USA zu mehreren Neuerungen geführt. Auf der einen Seite wurden hohe Summen in die Kapazität der Handelssysteme investiert, auf der anderen Seite aber auch sogenannte «circuit breaker» eingeführt – automatische Unterbrüche des Handels bei grossen Kurseinbrüchen. Von diesen Handelsstopps versprach man sich viel, sie waren als «psychologisches Sicherheitsnetz» gedacht, das es den Händlern ermöglichen würde, sich vom hektischen Handel zu erholen und entsprechend Überreaktionen zu vermeiden.

Handelsstopps sind jedoch unter Fachleuten sehr umstritten. Nicht nur ihre konkrete Ausgestaltung (absolute contra prozentuale Verluste, Anpassungen der Limiten an neue Index-Stände) oder eventuelle kontraproduktive Effekte (das Wissen um bevorstehende Handelsstopps kann den Abwärtstrend beschleunigen, wenn alle noch verkaufen wollen, bevor sie nicht mehr können) werden hinterfragt, sondern auch die Institution selbst. Wird der Handel unterbrochen, können die Preise ihre Funktion der Informationsbildung und -übermittlung nicht mehr wahrnehmen, argumentieren die Gegner von Handelsstopps. Die Informationsbildung durch die Preise wäre aber gerade in Krisen sehr wichtig. Untersuchungen zum Börsenplatz Hongkong – der einzige Börsenplatz weltweit, der nach dem Crash während vier Tagen ganz geschlossen blieb – zeigen zudem, dass die Schliessung für den Börsenplatz mehr von Nachteil als von Vorteil gewesen ist. Der Verlust nach der Wiedereröffnung war im Schnitt 7–12% grösser als der Verlust der Nachbar-Börsenplätze, die den Handel nicht geschlossen hatten, die Volatilität war höher, und die Liquidität ging stärker zurück als bei den Konkurrenten.

Ist eine Schliessung der Märkte jedoch grundsätzlich erwünscht, sind klare Regeln sicher besser als diskretionäre Schliessungen. Denn die Unsicherheit während des 87er Crashs darüber, ob die NYSE und die Derivatebörsen geöffnet bleiben würden oder nicht, und die widersprüchlichen Informationen der Behörden und Börsenbetreiber haben ganz markant zur Krise beigetragen.

Herr Zimmermann, könnte sich der 87er Crash heute wiederholen?

Heinz Zimmermann: In dieser Form nicht. Damals haben die unvollständigen Handelsmechanismen ganz massgeblich zur Krise beigetragen. Besonders die Koordination zwischen den Future- und den Aktienmärkten hat nicht funktioniert. Heute ist diese Koordination viel besser ausgebildet. Doch Krisen an den Aktienmärkten – auch im Umfang des Crashs von 1987 – können natürlich immer geschehen, nur wäre heute der Ablauf sicher anders.

Was sind die wichtigsten Lehren, die man aus dem 87er Crash gezogen hat?

Für mich sind zwei Lehren besonders wichtig. Erstens wurde wegen des Crashs das Design der Börsensysteme so verbessert, dass heute einheitliche Regeln und Handelsmechanismen für die Spot- und für die Future-Märkte gelten. Die Heterogenität der Märkte im Jahr 1987 hatte dazu geführt, dass die Informationsverarbeitung in den verschiedenen Segmenten nicht mehr lief. Zweitens lehrt der 87er Crash, dass der Risiko-Appetit der Marktteilnehmer oft falsch eingeschätzt wird. Dies geschieht besonders dann, wenn dynamische Absicherungsmechanismen nicht über die Börse laufen, sondern ausserbörslich gehandhabt werden. Dann sind sie nicht transparent und somit auch nicht prognostizierbar.

Das erinnert stark an die Krise bei den Kreditderivaten im Sommer dieses Jahres . . .

Da können in der Tat gewisse Parallelen gezogen werden. Auch heute an den Kreditmärkten wird ausserbörslich dynamisch abgesichert, etwa über synthetisch replizierte Portfolios. Wenn ein grosses Volumen von nicht sichtbaren Absicherungen existiert, wird ein Finanzsystem instabil. Korrekturen führen dann zu Koordinationsproblemen, die vom Markt nicht mehr bewältigt werden können. Dies gilt ganz besonders bei illiquiden Positionen. In dieser Intransparenz sehe ich grosse Ähnlichkeiten zwischen den dynamischen Absicherungen wie der Portfolio-Insurance im Jahr 1987 und den Kreditderivaten, die diesen Sommer für Finanzmarktturbulenzen gesorgt haben. Würden Absicherungen über den Markt laufen, hätten die Marktteilnehmer sehr viel mehr Informationen, und etwaige Ungleichgewichte würden früher erkannt.

Was bedeutete der 87er Crash für den Finanzplatz Schweiz?

Die damalige Krise und die «Mini-Crashs» der Folgejahre haben in der Schweiz zum Umdenken geführt bezüglich Transparenz und bezüglich der Notwendigkeit eines eidgenössischen Börsengesetzes, das auch die Derivate-Märkte regulierte. Davor hatte in der Schweiz besonders bei den Derivaten eine grosse Rechtsunsicherheit geherrscht – man muss sich nur daran erinnern, dass die Soffex startete, als in der Schweiz noch gar keine gesetzlichen Grundlagen für Derivate existierten. Aus dieser Sicht war der 87er Crash für die Schweiz unter dem Strich wahrscheinlich sogar positiv.

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